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Das unsichtbare Licht

Einmal im Jahr geschieht im Kapuzinerkloster Wesemlin ein unscheinbares Wunder: Die Brüder stellen sich auf für ein Foto.

Ein kurzer Augenblick – und doch ein Moment, der Ewigkeit berührt. Der Fotograf sagt: «Noch einen Schritt nach links», und mit dieser Bewegung ordnet sich nicht nur das Bild, sondern das Leben selbst. Denn wer gemeinsam steht, steht nie nur für sich.

Das Foto ist keine Aufnahme, sondern ein Gleichnis. Es zeigt, dass Zugehörigkeit nicht Besitz ist, sondern Geschenk. Hinter jedem Gesicht liegt eine Geschichte, und doch verschmelzen sie zu einem stillen Wir. Was hier sichtbar wird, ist das Unsichtbare: Geduld, Vertrauen, Hingabe – eine spirituelle Grammatik des Daseins.

In der Ethnologie nennt man das eine „Verdichtung von Identität“, doch im Kloster heisst es einfach: Gemeinschaft. Jedes Jahr wiederholt sich dieses Ritual, und mit jedem Klick entsteht kein neues Bild, sondern eine neue Gegenwart. Wie Jahresringe im Holz wächst die Zeit in die Tiefe, nicht in die Breite. Manche Gesichter fehlen, neue treten hinzu – und doch bleibt das Licht dasselbe.

Das Bild hält nicht fest, was vergeht, sondern was sich trägt: die stille Mitte des gemeinsamen Lebens. Es ist eine Ikone der Einfachheit, franziskanisch im Kern, demütig im Ausdruck. Kein Pomp, keine Pose – nur das stille Bekenntnis: Wir sind da, wir gehören zusammen. Und vielleicht ist dieses einfache „Stehenbleiben“ der radikalste Akt in einer Welt, die nie stillsteht.

Die Kamera sieht nur Formen, aber sie ahnt die Beziehung. Der Schatten, der fällt, ist Teil des Lichts. So wird aus einem fixen Termin ein geistlicher Fixpunkt – ein Mandala aus Fleisch und Geist, das sagt: Das Leben vergeht, aber die Liebe bleibt im Bild.

- bruder george