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Sie leben in unserer Mitte

Es gibt Tage, da wird die Zeit durchlässig. Da spüren wir, dass Vergangenheit nicht einfach hinter uns liegt, sondern mit uns geht – Schritt für Schritt.

Der Allerseelentag ist so ein Tag. In unserem Kloster haben wir heute innegehalten, um der verstorbenen Mitbrüder unserer Schweizer Kapuzinerprovinz zu gedenken. Es ist eine stille, aber kraftvolle Tradition, die uns verbindet – über Generationen, über Grenzen, über das Sichtbare hinaus.

Warum wir uns treffen? Weil Erinnerung mehr ist als Nostalgie. Weil wir glauben, dass Beziehung den Tod überdauert. Weil wir spüren: Unsere verstorbenen Brüder sind nicht einfach fort – sie sind verwandelt. Und sie sind da. In unseren Geschichten, in unseren Liedern, in unseren Herzen.

Wir haben ihre Namen genannt. Franz Xaver, Egfrid, Gebhard, Bernhardin, Felicissimo, Crispin, August. Namen, die klingen wie Glockenschläge in der Dämmerung. Jeder Name ein Leben. Jeder Name ein Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte.

Im Gebet haben wir sie Gott anvertraut – dem, der alle Wege kennt, auch die durch das Dunkel. Wir haben gesungen: „Ich will dir danken, weil du meinen Namen kennst, Gott meines Lebens.“ Und in diesem Gesang war etwas von jener Hoffnung, die uns trägt: Dass kein Leben verloren geht. Dass jeder Bruder, jede Schwester, jeder Mensch in Gottes Herz eingeschrieben ist.

Nach dem Gebet kam die Rekreation – nicht als Pause, sondern als Fortsetzung. Wir haben erzählt, gelacht, geschwiegen. Erinnerungen geteilt, die wie Lichtstrahlen durch die Zeit fielen. Da war das verschmitzte Lächeln von Bruder Egfrid, die stille Güte von Bruder Gebhard, die Leidenschaft von Bruder Crispin. Ihre Geschichten wurden lebendig – und mit ihnen ein Stück Himmel auf Erden.

In solchen Momenten wird spürbar: Gedenken ist kein Rückblick, sondern ein geistlicher Akt der Gegenwart. Es ist ein Sich-Verbinden mit dem, was bleibt. Mit dem, was uns geprägt hat. Mit dem, was uns ruft, weiterzugehen – im Vertrauen, dass wir begleitet sind.

Denn wer erinnert, der liebt. Und wer liebt, der lässt nicht los. Unsere verstorbenen Brüder sind nicht nur Teil unserer Vergangenheit – sie sind Teil unserer Berufung. Ihre Lebensspuren sind wie Wegzeichen, ihre Geschichten wie Psalmen, ihre Fehler wie Spiegel, ihre Treue wie ein leiser Trost.

Am Ende dieses Abends haben wir auch an jene gedacht, deren Namen niemand kennt – an die Namenlosen, die im vergangenen Jahr heimgegangen sind. Auch sie sind Teil unseres Gedächtnisses. Denn in Gottes Buch fehlt kein Name.

Und so gehen wir weiter. Schritt für Schritt. Mit dem Wissen: Wir sind nicht allein. Die Gemeinschaft der Brüder – sie reicht weiter, als das Auge sieht. Und sie lebt, wo wir einander erinnern. Wo wir erzählen. Wo wir danken. Wo wir lieben.

- bruder george